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Gewalt im Kindergarten: Wenn unser Kind betroffen ist
Liebe Eltern, vielleicht lesen Sie diesen Artikel, weil Ihr Kind nach Hause kommt und erzählt, dass es geschubst wurde. Oder weil die Erzieherin Sie zur Seite genommen hat, weil Ihr Kind andere Kinder beißt. Oder weil Ihr Kind plötzlich Angst hat, in die Kita zu gehen, obwohl es selbst nicht direkt betroffen scheint.
Was auch immer Sie hierher geführt hat: Sie sind hier richtig. Und Sie sind nicht allein.
Gewalt im Kindergarten – schon das Wort fühlt sich hart an. Wir möchten, dass unsere Kinder behütet aufwachsen. Und dann passiert etwas, das uns erschüttert, verwirrt oder beschämt. In diesem Moment ist es wichtig zu wissen: Jede dieser Situationen sagt etwas über die Bedürfnisse unserer Kinder aus. Keine davon macht uns zu schlechten Eltern.
Wenn Ihr Kind verletzt wird
Das fühlen Sie vielleicht: Wut, Ohnmacht, den Drang, Ihr Kind sofort zu beschützen. Vielleicht auch Traurigkeit oder Schuldgefühle: “Hätte ich es früher merken müssen?” All diese Gefühle sind absolut verständlich.
Was Ihr Kind jetzt braucht
Ihr Kind braucht vor allem eines: Gehört werden. Nicht verhört, nicht befragt – sondern gehört.
• Glauben Sie Ihrem Kind. Sätze wie “Das wird schon nicht so schlimm gewesen sein” verletzen zusätzlich
• Bleiben Sie ruhig, auch wenn in Ihnen ein Sturm tobt. Ihre Ruhe gibt Ihrem Kind Sicherheit
• Sagen Sie: “Das hätte nicht passieren dürfen. Du hast nichts falsch gemacht”
• Vermeiden Sie: “Hau zurück” oder “Stell dich nicht so an”
Praktische Schritte:
• Dokumentieren Sie, was Ihr Kind erzählt, als Sie Zeit und Ruhe haben – mit seinen eigenen Worten, ohne Interpretation
• Suchen Sie zeitnah das Gespräch mit den Pädagog*innen: “Mir hat [Name] erzählt, dass… Können Sie mir schildern, was Sie beobachtet haben?”
• Entwickeln Sie gemeinsam einen Plan: Wie wird mein Kind geschützt? Wer achtet besonders darauf?
• Stärken Sie Ihr Kind: “Du darfst Nein sagen. Dein Körper gehört dir. Es ist okay, um Hilfe zu bitten”
• Seien Sie geduldig: Verarbeitung braucht Zeit. Rückschritte sind normal
Wichtig zu wissen: Manchmal ziehen sich Kinder zurück, reagieren nicht, wehren sich nicht. Das ist keine Schwäche, sondern eine Reaktion auf Überforderung. Manche Kinder brauchen erst Hilfe dabei, überhaupt zu spüren: “Das war nicht okay.”
Wenn Ihr Kind andere verletzt
Das fühlen Sie vielleicht: Scham, Hilflosigkeit, vielleicht auch Rechtefertigungsdrang oder die Sorge: “Was denken die anderen Eltern über uns?” Vielleicht sind Sie auch wütend auf Ihr Kind. Auch diese Gefühle dürfen sein.
Was wichtig ist zu verstehen: Aggressive Kinder sind keine „bösen” Kinder. Sie sind Kinder in Not.
Wenn ein Kind kratzt, beißt, schlägt, sagt es damit: “Mir fehlt etwas. Ich komme nicht anders klar. Ich brauche Hilfe.” Oft sind es die verletzlichsten Kinder, die nach außen am stärksten wirken.
Was Ihr Kind jetzt braucht:
• Keine Beschämung. Sätze wie “Schäm dich!” oder “Du bist böse” verstärken das Problem
• Klare Grenzen mit Würde: “Ich sehe, du bist wütend. Hauen tut weh. Ich zeige dir, was du stattdessen machen kannst”
• Gefühlsbegleitung: Helfen Sie Ihrem Kind, Gefühle zu benennen: “Du warst so wütend, dass du nicht wusstest, wohin damit, richtig?” Nutzen Sie die Vieniko Gefühlskarten!
• Auf Bedürfnissuche gehen: Was fehlt meinem Kind gerade? Aufmerksamkeit? Struktur? Ruhe? Möglichkeiten, sich auszupowern?
Praktische Schritte:
• Nehmen Sie die Rückmeldung der Kita ernst – ohne sich selbst zu verurteilen
• Fragen Sie nach Mustern: Wann passiert es? In welchen Situationen? Bei welchen Kindern?
• Beobachten Sie zu Hause: Ist mein Kind überfordert? Zu müde? Zu lange in Betreuung? Gibt es Veränderungen in der Familie?
• Holen Sie sich Unterstützung: Erziehungsberatung, Kinderarzt, eventuell Ergotherapie oder Psychomotorik
• Arbeiten Sie eng mit der Kita zusammen: “Was braucht mein Kind, um sich sicher zu fühlen?”
• Stärken Sie die Bindung: Mehr exklusive Zeit, mehr Körperkontakt, mehr gemeinsames Spielen
Realität anerkennen
Manchmal sind wir selbst am Limit. Zu viel Arbeit, zu wenig Schlaf, finanzielle Sorgen, Partnerschaftsprobleme. Kinder spüren das und reagieren darauf. Das ist keine Schuldzuweisung – es ist eine Einladung, ehrlich hinzuschauen: Was brauchen wir als Familie?
Wenn Ihr Kind Zeuge wird
Das fühlen Sie vielleicht:
Erleichterung (“Zum Glück ist mein Kind nicht direkt betroffen”) gemischt mit Unbehagen. Vielleicht Unsicherheit: “Muss ich etwas tun?”
Was wichtig ist zu verstehen: Kinder, die Gewalt miterleben, sind auch betroffen. Sie fühlen Angst, Hilflosigkeit, manchmal auch Schuldgefühle (“Ich hätte helfen müssen”). Manche Kinder entwickeln Ängste, andere übernehmen das aggressive Verhalten, wieder andere ziehen sich zurück.
Was Ihr Kind jetzt braucht:
• Raum zum Reden: “Ich habe gehört, dass in deiner Gruppe manchmal gehauen wird. Hast du das auch schon gesehen?”
• Einordnung: “Das sollte nicht passieren. Die Erwachsenen müssen besser aufpassen”
• Handlungsoptionen: “Wenn du so etwas siehst, darfst du einem Erwachsenen Bescheid sagen. Das ist kein Petzen, das ist Hilfe holen”
• Eigene Gefühle ausdrücken: “Wie fühlst du dich, wenn du das siehst?”
Praktische Schritte:
• Sprechen Sie mit der Kita an, was Sie gehört haben – auch wenn Ihr Kind nicht direkt betroffen ist
• Vernetzen Sie sich mit anderen Eltern, nicht um zu urteilen, sondern um gemeinsam hinzuschauen
• Stärken Sie Ihr Kind: “Du musst dich nicht dazwischenstellen. Aber du darfst Erwachsene holen”
• Seien Sie Vorbild: Wie gehen Sie mit Konflikten um? Wie sprechen Sie über andere Menschen?
Was uns alle verbindet
Egal in welcher Situation Sie sich befinden – ob Ihr Kind verletzt wird, andere verletzt oder Zeuge ist – alle wollen dasselbe: Dass Ihr Kind sicher und glücklich aufwächst.
Bindungsorientierte Prävention bedeutet:
• Hinschauen statt Wegschauen – auch wenn es unangenehm ist
• Miteinander reden statt übereinander – über Eltern, Kinder, Pädagog*innen
• Verständnis statt Verurteilung – für das betroffene Kind, für das aggressive Kind, für die Eltern, für die Pädagog*innen
• Gemeinsam Lösungen finden – nicht gegeneinander, sondern für die Kinder
Konkrete Hilfen für den Alltag Für alle Eltern:
Stärken Sie die sichere Basis:
• Tägliche Kuschelzeit, auch wenn Sie erschöpft sind
• Rituale, die Sicherheit geben
• Gefühle benennen: “Ich sehe, du bist…”
• Körperautonomie respektieren: Niemand muss umarmen, wenn er nicht will
Seien Sie im Gespräch mit der Kita:
• Entwicklungsgespräche wahrnehmen
• Beobachtungen teilen: “Mir ist aufgefallen…”
• Nach dem pädagogischen Konzept fragen: Wie gehen Sie mit Konflikten um?
• Gemeinsam überlegen: Was braucht mein Kind?
Vernetzen Sie sich:
• Mit anderen Eltern austauschen
• Erziehungsberatung nutzen – nicht erst in der Krise
• Selbst für sich sorgen: Nur aus einem vollen Becher kann man gießen
Achten Sie auf Warnsignale:
• Plötzliche Verhaltensänderungen
• Körperliche Symptome ohne Ursache
• Ablehnung der Kita
• Schlafprobleme, Albträume
• Aggressives oder sehr zurückgezogenes Verhalten
Keine Perfektion erwartet
Sie müssen nicht alles perfekt machen. Sie dürfen:
• Überfordert sein
• Nicht sofort die richtige Reaktion finden
• Wütend sein
• Weinen
• Sich Hilfe holen
• Auch mal eine Nacht darüber schlafen
Sie sind gut genug. Und Ihr Hinschauen macht den Unterschied.
Dieser Artikel kann keine individuellen Lösungen bieten. Jedes Kind, jede Familie, jede Situation ist anders. Aber er kann Sie daran erinnern:
Sie sind nicht allein. Es ist nicht Ihre Schuld. Und es gibt Wege. Gemeinsam – Eltern, Pädagog*innen, Gesellschaft – können wir Orte schaffen, an denen alle Kinder sicher sind. Kinder, die verletzt werden. Kinder, die verletzen. Und Kinder, die zusehen. Sie alle verdienen unseren Schutz, unsere Aufmerksamkeit und unsere Liebe.